“Kaufen auch Sie im Internet?”

Dieser Anzeigetext kam mir neulich auf Facebook unter (natürlich in Bildform):

Kaufen auch Sie im Internet?


Transkript (Rechtschreibfehler inklusive):
Kaufen auch Sie im Internet?

  1. Wann hat Ihnen das Internet das letzte Mal einen Arbeitsplatz angeboten?
  2. Wo arbeiten Sie, wenn es Ihren jetzigen Arbeitgeber auf einmal nicht mehr gibt, weil er vom Internet vernichtet wurde?
  3. Wie viel Jugendliche haben aus Ihrer Region haben einen Ausbildungsplatz im Internet bekommen?
  4. Wie hoch war die Spende für Ihren Verein, Ihre Schule oder Ihren Kindergarten, die das Internet Ihnen gezahlt hat?
  5. Wie viele Steuern zahlt das Internet für Ihre Gemeinde / Stadt?
  6. Wann hat Sie das Internet Vor-Ort oder in Ihrer Nähe kompetent beraten?
  7. Wie war der Service nach dem Kauf im Internet?
  8. Haben Sie schon einmal vom Internet einen Auftrag bekommen?
  9. Wie sieht Ihre Stadt aus, wenn es keine lokalen Geschäfte mehr gibt?
  10. Wie sieht Ihre Umgebung aus, wenn es keine Unternehmen / Geschäfte mehr gibt, die Steuern zahlen?

Daher … KAUF LOKAL


Ich könnte auf jeden einzelnen Punkt kontern, nicht zuletzt weil ich selber in der Branche mein Geld verdiene, aber das bringt uns nicht weiter.

Das Problem bei diesem Text ist die Grundannahme, es gebe ein “wir” (die lokalen Händler) gegen “die” (das Internet).

Wer auf dieser Einstellung beharrt, wird wahrscheinlich tatsächlich “vom Internet vernichtet”, aber aus dem einfachen Grund dass er eine technologische Entwicklung verschläft und anstatt sie sich zu Nutzen zu machen, in Angststarre verfällt. Natürlich ist es einfacher, anderen die Schuld zu geben, als sich das eigene Versagen einzugestehen.

Ich konnte nichts dagegen tun, “das Internet” hat meine Existenz ruiniert.

Noch besser als auf das ominöse “Internet” kann man auf seine eigenen Kunden schimpfen. Dann kommen sie bestimmt zurück!

Die doofen Kunden kaufen nur noch online!

Bombensicherer Plan, oder? Aber genug Sarkasmus vorerst, und gehen wir das Thema konstruktiv an:

Wie kann ich als Händler vom Internet PROFITIEREN?

Als erstes: Betrachte das Internet als das was es ist, nämlich einen weiteren Standort, mit nahezu beliebig vergrößerbarer Reichweite.

Stell dir vor, du hast einen Skater-Laden in Hintertupfingen. Es läuft mittelmäßig, immerhin bedienst du neben den drei Kunden aus dem Ort noch die umliegenden Dörfer. Viele von dort fahren aber auch lieber in die nächste Großstadt seit die Verkehrsanbindung einfach besser ist. Was tust du um Kunden zu gewinnen anstatt zu verlieren? Auf die böse Großstadt schimpfen? Oder doch lieber dort eine Filiale eröffnen? Vielleicht sogar komplett umziehen?

Natürlich ist das Eröffnen einer neuen Filiale eine beträchtliche Investition und will sorgfältig geplant werden. Genau so sollte die Eröffnung der “Filiale Internet”, also der eigene Online-Shop angegangen werden:

  • Das unangenehme zuerst: es wird Geld kosten, genau wie eine “echte” Filiale.
  • Mit Profis arbeiten: es gibt viele verschiedene Dienstleister und ebenso schwankt die Qualität. Nimm dir Zeit für die Auswahl und nicht den erstbesten oder gar den scheinbar billigsten. Persönliche Gespräche helfen, oder Empfehlungen von anderen Händlern. Full Service Agenturen, die vom Design über die technische Umsetzung bis hin zum Marketing alles übernehmen sind eine “einfache” Variante, einzelne Spezialisten für die jeweiligen Bereiche eine ebenso gute, bei der jeder tut was er am besten kann. Hier ist allerdings wichtig, dass die Parteien voneinander wissen und auch miteinander kommunizieren.
  • Kenne deine Zielgruppe: Wer sind sie? Was suchen sie? Wie werden sie den Shop benutzen? Das ist nicht nur für das Design relevant, sondern auch für die angebotenen Funktionen und die Navigation durch Katalog und Checkout. Sobald der Shop online ist, können und müssen die getroffenen Annahmen auch überprüft werden: prüfe die Daten aus Google Analytics usw. regelmäßig um z.B. festzustellen, wie Kunden durch den Shop navigieren.
  • Den Lager- und Bestellprozess planen: vielleicht passt der Standardprozess des gewählten Shop-Systems, dieser ist aber üblicherweise konfigurierbar und erweiterbar und sollte an die eigenen Prozesse angepasst werden. Welche Systeme müssen miteinander verbunden werden? Was kann automatisiert werden? Wie werden Bestellungen am effizientesten versendet? Ein guter technischer Dienstleister kann auch dazu beraten.
  • Die Auswahl des passenden Shop-Systems: Hier ist es sinnvoll, sich nicht zu früh festzulegen, sondern erst wenn man sich über die eigenen Anforderungen klar geworden ist und man sich dabei idealerweise schon hat beraten lassen. Es muss nicht immer gleich Magento sein. Vielleicht ist sogar ein Testballon auf einer SaaS (Software As A Service) Plattform wie Shopify sinnvoll, auf der zwar pro Verkauf Gebühren anfallen, die initialen Kosten aber relativ gering sind.
  • Kundenservice: Behandle Online-Kunden nicht als Kunden zweiter Klasse. So wie im Ladengeschäft Mitarbeiter für den Kunden ansprechbar sind, sollte auch für den Online-Shop jemand auf Emails antworten und zu Geschäftszeiten telefonisch erreichbar sein. Nicht 24/7, aber eben auch nicht “jeder ungerade Dienstag”. Kundenberatung kann auch online funktionieren und ist längst kein Alleinstellungsmerkmal von Brick & Mortar Stores.
  • Pflege: Den Shop einmal befüllen und dann sich selbst überlassen funktioniert in den seltensten Fällen. Produkte, Texte, Newsletter, Werbe-Aktionen, ein Online-Shop benötigt ständige Betreuung.

Ich habe nicht gesagt, dass es einfach wird. Aber notwendig, um langfristig am Markt zu bleiben. Ladengeschäfte haben sicherlich noch ihre Daseinsberechtigung, aber je mehr online gekauft wird, desto weniger sollte man sich auf dieses alleine verlassen.

Eins noch: “im Internet kaufen” ist nicht synomym zu “Amazon”! Ich kann verstehen, wenn man einen Konzern, dem man Ausbeutung von Mitarbeitern nachsagt und der sämtliche Steuerschlupflöcher nutzt, nicht unterstützen möchte. Amazon zu boykottieren ist also eine legitime Entscheidung, genauso wie man aus den selben Gründen vielleicht Lidl boykottiert. Mit den Argumenten aber gar nicht mehr online einzukaufen ist ähnlich absurd wie gar keine Lebensmittel mehr einzukaufen.

Ich würde den Aufruf von oben also umformulieren:

KAUF LOKAL … GERNE ONLINE

Unterstütze den Einzelhandel, indem du (direkt) online bei ihm bestellst. Es gibt tausende von spezialisierten Online-Shops, nicht alle verkaufen über Amazon und die die es tun, zahlen saftige Provisionen.

Ich suche mittlerweile häufig für Anschaffungen erst über Google oder auch idealo nach einem guten, vertrauenswürdigen Online-Shop zum Thema, und werde, wenn der Service überzeugt, auch Stammkunde.

Leider habe ich hohe Standards, wenn dort also z.B. die Suche nicht funktioniert oder der Aufruf von Kategorie-Seiten mehrere Sekunden dauert, hat man mich als Kunden schon verloren. Einfach nur “irgendwie online” zu sein, genügt also nicht!

Wer gar nicht online verkauft, hat allerdings Pech gehabt, oder muss so verdammt gut sein, dass es mir meine Zeit wert ist, mich für den Einkauf ins Auto zu setzen.

Willkommen im 21. Jahrhundert 🙂